Im Interview: Mario Bertling, Geschäftsführer der ESV
Die deutsche Drahtindustrie ist auf Draht – die Digitalisierung ist in vielen Teilen der Branche bereits angekommen. „Die Unternehmen arbeiten daran, dass die Kunden zukünftig vom Walzdrahteingang bis hin zur Konfektionierung und Lagerung über digitale Medien detailliert nachverfolgen können, in welchem Stadium sich ihr Auftrag gerade befindet und wann dieser fertiggestellt werden wird“, erklärt Mario Bertling, Geschäftsführer der Eisendraht- und Stahldraht-Vereinigung e.V. (ESV) im Gespräch mit den wire & Tube NEWS. Auf der anderen Seite muss sich die Branche den großen Herausforderungen stellen, die sich aus dem Krieg in der Ukraine ergeben haben.
wire & Tube NEWS: Wie geht es den Drahtherstellern derzeit?
Mario Bertling: Nach zwei Jahren der pandemiebedingten Unsicherheiten und Herausforderungen durch Lockdowns sowie der Umsetzung von 3G-Regelungen und darüberhinausgehender Maßnahmen zum Schutz der Mitarbeiter innerhalb der Betriebe gingen die Unternehmen aufgrund hoher Nachfrage und hoher Auftragsbestände von einem guten ersten Halbjahr 2022 aus. Auch die Versorgung mit Halbleitern für die Automobilindustrie schien sich zu entspannen.
Dann hat am 24. Februar 2022 Russland den Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen und seitdem sieht sich die Branche mit immer weiteren Herausforderungen konfrontiert. Bereits vor dem Krieg waren die Kosten beim Vormaterial, bei den fossilen Brennstoffen, beim Transport sowie bei den Hilfs- und Betriebsstoffen massiv gestiegen. Dieser Trend hält ununterbrochen an.
Hinzu kommt die bestehende oder drohende Mangellage in vielen Bereichen.
Zunächst fehlte es an Kabelbäumen aus der Ukraine für die Automobilindustrie, so dass in vielen Werken die Produktion gedrosselt werden musste und die Nachfrage drastisch zurückging. Auch die Konsumgüterindustrie erhielt aufgrund der Verunsicherung der Verbraucher nach Ausbruch des Kon-flikts einen spürbaren Dämpfer.
Währenddessen spürte man die enge Verknüpfung und Abhängigkeit der globalen Lieferketten. So zeigte sich nach den Embargos gegen Russland und Belarus, dass in den vergangenen Jahrzehnten viele Produkte wie zum Beispiel Nägel für Holzpaletten abgewandert sind und nun deren Verfügbarkeit gefährdete.
Noch größere Sorgen bereitet der Branche die Abhängigkeit vom russischen Gas und der von der Bundesregierung veröffentlichte Notfallplan Gas. Im Fall einer Mangellage beim Gas wären nach den Abschaltkunden direkt die Industriekunden betroffen. Eine Minderversorgung hätte aber aufgrund der überwiegend kontinuierlichen Prozesse einen unmittelbaren Stillstand eines überwiegenden Teils der Drahtindustrie mit massiven Schäden an Öfen und Maschinen zur Folge.
Hinzu kommen die Transportprobleme. Auf der Straße sind nicht nur die Dieselzuschläge bei den Speditionen äußerst belastend. Jeder dritte Fahrer, der international für polnische oder litauische Speditionen unter Vertrag genommen war, kam aus der Ukraine. Laut Bundesverband Güterkraftver-kehr Logistik und Entsorgung fehlen alleine in Deutschland 60 000 bis 80 000 Lkw-Fahrer. Auch beim Transport über den Seeweg sehen die Perspektiven nur wenig erbaulich aus.
In vielen Bereichen sind die Auswirkungen von Pandemie, Krieg und Versorgungskrise nicht abschlie-ßend abzusehen. Es wird voraussichtlich in einigen Bereichen zu einer kompletten Neuaufstellung
von Lieferketten und Versorgungswegen kommen. Das bietet einerseits zwar Chancen, birgt aber auch nicht unerhebliche Risiken für die Drahtunternehmen.
Die deutsche und europäische Drahtindustrie sollte in dieser besonderen Situation nicht nur erneut Leidträger der Entwicklungen und politischen Maßnahmen sein, sondern in der Erkenntnis der beste-henden Abhängigkeiten und der damit verbundenen Risiken globaler Lieferketten auch die Unterstützung erhalten, an einer Schaffung einer breiten Basis zur Absicherung der deutschen und europäischen Unabhängigkeit in der Stahl- und Metallverarbeitung aktiv mitwirken zu können.
wire & Tube NEWS: Wie wirkt sich die zunehmende Digitalisierung auf die Drahthersteller aus?
Mario Bertling: Die Digitalisierung ist in vielen Teilen der deutschen Drahtindustrie angekommen und etabliert. Ob verschiedene ERP-Systeme oder die standortübergreifende Einführung von SAP. Die Unternehmen arbeiten daran, dass die Kunden zukünftig vom Walzdrahteingang bis hin zur Konfektionierung und Lagerung über digitale Medien detailliert nachverfolgen können, in welchem Stadium sich ihr Auftrag gerade befindet und wann dieser fertiggestellt werden wird.
wire & Tube NEWS: Zahlreiche Regierungen setzen einerseits auf Regulierungen und andererseits auf Anreize, um die Elektromobilität umzusetzen. Welche Konsequenzen hat dies für die Drahthersteller?
Mario Bertling: Die Klimaschutzziele der deutschen und europäischen Politik werden auch von den deutschen Drahtherstellern unterstützt und mitgetragen. Allerdings sollte die Mobilitätswende technologieoffen und zielorientiert gestaltet werden, anstatt von einer Übergangstechnologie in die nächste getragen zu werden. Zielvorgaben setzen, ohne vorher notwendige Infrastrukturen geschaffen zu haben, kann keine Lösung auf dem Weg einer zeitnahen klimaneutralen Mobilität sein.
wire & Tube NEWS: Welche weiteren aktuellen Trends gibt es in der Drahtproduktion?
Mario Bertling: „Green Steel for Europe“: In Kooperation mit den Vormateriallieferanten wird auch in der Drahtindustrie an dem klimaneutralen Draht intensiv gearbeitet. Leider bestehen in etlichen Bereichen bereits die technischen Möglichkeiten, wie zum Beispiel bei Brennern für Wärmebehandlungsöfen, es fehlt hingegen erneut an der notwendigen Infrastruktur etwa für eine ausreichende Wasserstoffversorgung oder die ausreichende Versorgung mit elektrischer Energie.
Michael Vehreschild